Arne Jacobsen, das Mainzer Rathaus und der dänische Hygge-Lifestyle

Ein nicht ganz ernst gemeintes Plädoyer für eine Neubewertung.

Dass Arne Jacobsen nicht nur das Gebäude des Rathauses, sondern auch dessen Ausstattung entwarf, ist gemeinhin bekannt. Auch, dass in diesem Zusammenhang gerne in unterschiedlicher Gesinnung der Begriff des Gesamtkunstwerks fällt, dürfte dem ein oder anderen aufmerksamen Verfolger der lokalen Medien und einschlägigen Quellen nicht entgangen sein.

In dem umfassenden Design, das Jacobsen für sein architektonisches Konzept in Mainz vorschwebte, stellt die Ausstattung und Gestaltung des Innenraumes eine tragende Komponente dar, weshalb es sich lohnt, der Frage ‚Arne Jacobsen als Marke eines typisch dänischen Raumdesigns in Mainz?‘ nachzugehen.

Zu meinem nachfolgenden Plädoyer veranlasst sehe ich mich durch ein nicht mehr ganz so neues, doch immer noch aktuelles Phänomen von Lifestyle-Kultur, das schon lange hierzulande eine Heimat gefunden hat. Jedem Fan skandinavischer Idylle und Heimeligkeit dürfte der norwegische Begriff Hygge durchaus geläufig sein, der insbesondere in Dänemark eine fest etablierte Lebensart meint und daher quasi als Bestandteil des immateriellen dänischen Kulturerbes bezeichnet werden könnte. Dem hyggeligen Dänen selbst als eigentlich unübersetzbar geltend, kursiert der Begriff nach allgemeinem Konsens in der freien Bedeutung eines Gefühls, das man mit den Attributen ‚gemütlich, nett oder auch angenehm‘ umschreiben könnte. Jetzt wird es für uns interessant, denn Hygge tangiert scheinbar alle Facetten des gesellschaftlichen Miteinanders und hat sich daher insbesondere als eine Art Einrichtungs-Knigge, oder besser gesagt –Hygge, in den globalen Blogs der Nordic Addicts und den Café-Landschaften der europäischen Städte etabliert – ganz vorne mit dabei natürlich, Deutschland.

Wohlgefühl und Geborgenheit – sich einen urigen Rückzugsort schaffen: Diesen von der Gesellschaft angestrebten Zielen sieht man durch den inflationären Einsatz von Kerzen, Lammfellen, Büchern und sonstigem Equipment zur Entschleunigung freudig entgegen. Den Rahmen des guten Geschmacks bilden hierzu das nicht minder wichtige Mobiliar sowie die Lampen. Vom Designer, wenn möglich echt skandinavisch.

Typisch Hygge – elegant schlichte Möbel im Midcentury Design, ein ausgewähltes Lichtkonzept und viel natürliche Gemütlichkeit

Es sind mit Arne Jacobsen die Stars der nordischen Moderne zur Mitte des 20. Jahrhunderts, die als die ‚hyggeligsten‘ Gestalter in der Fangemeinde gelten und deren Meisterstücke der Lounge- und Lichtkunst bis heute die ‚Dauerbrenner‘ der Einrichtungsblogs sind: Allem voran der ‚Swan-Chair‘ Arne Jacobsens oder aber die Pendelleuchten ‚PH 5‘ und ‚Artichoke‘ des Designers Poul Henningsen. Letztere können als wahre Lichtinstallationen bezeichnet werden, die durch ihre fächerartige Konstruktion den gleißenden Lichtschein der Glühbirne in mehreren Etappen filtern und damit aus Hygge-Sicht das gemeine elektrische Licht durch die Streuung auf den Gemütlichkeitsrang einer Kerze erheben. Die restliche, edle Ausstattung wird so in einem gedimmten, atmosphärisch ausgeleuchteten Raum in Szene gesetzt, um diesen zu einem Hyggekrog – auf Deutsch einer ‚Kuschelecke‘ – umzufunktionieren.

Der Designer Poul Henningsen mit PH 5 & Artichoke. Wie Jacobsen entwarf auch Henningsen diverse Lampen für den Beleuchtungshersteller Louis Poulsen.

Natürlich beinhaltet der Werkkatalog Arne Jacobsens sehr viel mehr, als der Hygge-Hype ausfindig gemacht hätte: So entstanden unter dem Markenzeichen AJ neben einer Besteckkollektion, Türgriffen und Kerzenhaltern vor allem weitere Koryphäen der Sitzmöbelkunst wie die Modelle ‚Egg‘, ‚The Ant‘, die ‚Serie 7‘ [Abb.] oder aber der ‚Giraffe Dining Chair‘ – alle aus den Jahren 1955 bis 1958. Schon früh in seiner Karriere beteiligte sich Jacobsen in der Sparte des Industriedesigns, etwa im Jahr 1929 mit der Leuchte des Modells ‚Bellevue‘. Die Lampenkollektionen ‚Aarhus‘ oder ‚Royal‘ hatte der Architekt, ebenso wie viele der Möbel, für die Ausstattung seiner Bauwerke entworfen – beispielsweise das 1941 fertiggestellte Rathaus in Aarhus oder aber das von 1956 bis 1960 errichtete SAS Royal Hotel in Kopenhagen. Durch den Erhalt der kompletten Raumausstattung der Suite 606 dieses Hotels bliebt der harmonische Eindruck des integrierten Möbels, das organische Materialien und Formen mit der modernen Funktionalität der Zeit kombinierte, bis heute erhalten und ist weiterhin für die BesucherInnen erlebbar. Andere Objekte, wie das Leuchtenmodell ‚Billiard‘ aus den 1960er-Jahren kreierte er im Auftrag von Herstellern wie Louis Poulsen.

Room 606 im SAS Hotel, Kopenhagen, links im Bild Jacobsens Egg Chair (Creative Commons)

Durchstreifte man mit diesem Wissen das Mainzer Rathaus vor seiner Schließung zum Beginn der Sanierung und richtete seinen Blick auf die noch verbliebene Ausstattung Arne Jacobsens, so blieben die Schlaglichter skandinavischer Eleganz den BesucherInnen einträglich in Erinnerung. Hierzu gehören die Stühle des bereits genannten Designs ‚Serie 7‘, die Jacobsen 1955 für den Hersteller Fritz Hansen entworfen hatte, und die in Mainz von der einfachen hölzernen bis hin zur repräsentativen Variante mit cognacfarbenem Lederbezug anzutreffen waren. Ebenso Teil der Ausstattung: das Stuhlmodell ‚Lily‘ – auch genannt ‚Serie 8‘ – das Jacobsen 1968 für die Dänische National Bank entworfen hatte und in der Variante mit Armlehnen auch als ‚Seagull‘ (Modell 3208) bezeichnet wird.

Stühle der Serie 7 in mehreren Ausführungen im Mainzer Rathaus

Im Eingangsbereich empfangen den Besucher die türkisfarbenen Rohrschächte der Aufzüge mit ihrer kontrastierenden, edlen Messingverkleidung im Inneren der Aufzugkapseln. Ihre klaren Formen, die kühle Farbe wie Materialität markieren das Foyer als Übergangsbereich zwischen Stadtraum und Rathausinnerem. Der darauf folgende, der Öffentlichkeit gewidmete Ausstellungs- und Empfangssaal, der von großformatigen Bodenplatten aus grünem Naturschiefer und einem kupferfarbenen, mit zahlreichen Einzelleuchten durchsetzen Deckenbehang räumlich gerahmt wird, greift offensichtlich auf denselben Material-Farb-Code zurück, der gleichzeitig die formale Klammer des Gebäudes bildet.

Blick nach oben im Foyer in die beleuchteten, offenen Stockwerke und auf die prägnant farbigen Aufzugschächte

Diverse Leuchten aus dem Repertoire des Architekten kamen im Rathaus zum Einsatz. Etwa die Einbauleuchte des Modells ‚Munkegaard‘ – das Design stammt aus dem Jahr 1955 und wurde für eine gleichnamige Schule entworfen – die mit ihrem opaken Glas für ein gleichmäßig gestreutes Ausleuchten der öffentlichen Bereiche wie auch der, der Stadtverwaltung vorbehaltenen, Büroräume und des Sitzungssaals sorgten. Das Herzstück des ästhetischen Programms ist in dieser Hinsicht sicher der Ratssaal, dessen holzvertäfelte Wände, versehen mit Leuchten des Designs AJ (entworfen 1960 für das Royal Hotel SAS in Kopenhagen), punktuell erhellt werden.

Der Ratssaal als Mittelpunkt von Demokratie und, dank durchdachtem Lichtkonzept organischer Materialität, von angenehmer Heimeligkeit

Überhaupt reizt die hier vorzufindende Lichtchoreografie zum Vergleich mit der räumlichen Wirkung einer überdimensional großen ‚PH 5‘-Lampe von Jacobsens Zeitgenossen Poul Henningsen, indem die übereinander gelagerten, kreisförmig angeordneten Schichten der Tischreihen und der Empore des Ratssaales das Licht der punktuell im Raum angebrachten Lichtquellen – vom indirekten, umlaufenden Beleuchtungsschlitz an der Decke bis hin zu den Tischlampen – in gleicher Weise zu streuen scheinen, wie es die einzelnen Lichtfächer der Hängelampe ermöglichen.

An dieser Stelle sollte noch einmal die durchaus negativ konnotierte Bezeichnung des ‚Fuchsbaus‘ für das Rathaus Jacobsens aufs Parkett gebracht werden, die ja sowohl auf den begeisterten Bauherrn, den damaligen Oberbürgermeister Jockel Fuchs, als auch auf den verschlossenen und wehrhaften Charakter seines Werkes anspielt. Sollte man Jacobsen also unterstellen, dass er, denke man diese Metapher weiter und verbinde sie mit dem Hygge-Gedanken, mit der Einrichtung des Hauses den Verwaltungsapparat der Stadt einlullen oder gar einschläfern wollte? *Zwinkersmiley*

Der unverklärte und ernsthafte Blick auf das große Ganze zeigt: Vielmehr ist es doch so, dass nach dem Wettbewerb von 1968 ein Markenzeichen skandinavischer Ästhetik importiert wurde und dankenswerterweise am Mainzer Rheinufer anlanden durfte. Eine Ästhetik, deren Qualitäten in der klaren Linie der geometrischen Form, der Auswahl preziöser und der Natur schmeichelnder Materialien, im ausgeklügelten Lichteinsatz sowie der damit entstehenden Raumatmosphäre liegen. Eine Eleganz also, die der Mainzer Zeitgenosse nach der Einweihung im Dezember 1973 durchaus zu schätzen wusste.

Der Imagefilm zur Eröffnung des Rathauses lässt auch Zeitzeugen zu Wort kommen, die ihrer Begeisterung Ausdruck verliehen…
…und wo sich sogar die Meenzer Fastnacht voll Stolzes für den Neubau zeigte (der Film war bis vor Kurzem noch auf YouTube zu sehen)

Merkwürdig erscheint, dass im Abstand von gerade einmal 45 Jahren ausgerechnet dem heutigen Bürger der Schlüssel zum Verständnis dieses Baus abhanden gekommen zu sein scheint und dass, wo Jacobsens ästhetisches Anliegen sich noch immer in der Gestalt eines stark gehypten Wohligkeitslifestyle namens Hygge flächendeckend auch in Mainz findet – fast jeder hier dürfte etwa das gleichnamige und heißgeliebte Cafè in der Frauenlobstraße kennen. Letzteres findet sich im Übrigen unweit des nächsten missverstandenen Mainzer Architekturerbes der 1970er-Jahre – die Rede ist von den Bonifazius-Türmen.

Vielleicht würde es daher helfen, eine neue Bezeichnung für das Rathaus im Volksmund einzuschleusen – vom Fuchsbau zum Mainzer Hyggekrog! Damit dürfte man doch dem Anliegen, die Lesbarkeit des architektonischen Konzeptes dieses Baudenkmals im Stil des skandinavischen Mid-Century Designs voranzutreiben, zumindest hinsichtlich einer speziellen Zielgruppe, näher gekommen sein. Möglicherweise wäre es ja sogar das Beste, den Bau in seinem alten, aber zeitlosen Glanze erstrahlen zu lassen? Arne Jacobsen brachte die Synthese von Hygge und Mainzer Lebensart jedenfalls ganz unverblümt an einem fast geheimen Ort im Rathaus zum Ausdruck – die Rede ist vom rathauseigenen Weinkeller, der ganz dem rustikalen Typus des in Deutschland nicht wegzudenkenden Partykellers der 1960er und 1970er Jahre entspricht, der von Jacobsen aber einen elegant hyggeligen Anstrich bekam. Ob Jockel Fuchs hier nicht seine Finger im Spiel hatte?

Ein Blick in den ‚Partykeller‘ des Rathauses. Hier trifft die Rustikalität des Mobiliars und der typisch braune Fliesenboden auf eine geometrisierende und filigrane Wandverkleidung Marke ‚Kunst am Bau‘

Dieses Plädoyer (das von der Mainzer Stadt gerne auch als Appell gelesen werden darf) schließt damit, die bereits so oft vorgebrachten, bestandserhaltenden Sanierungspläne auf sensibelste Art und Weise umzusetzen und dabei neben der ebenfalls hochwertigen Architektur nicht den Blick für die vom Architekten mitgedachte Ausstattung zu verlieren! Derzeit befindet sich Letztere laut Info der Stadt in einem Depot – hoffen wir, dass Ameise, Munkegaard und Co. ihren Weg nach der Sanierung auch wieder zurück auf ihre architektonische Bühne und damit ins Mainzer Rathaus finden werden.

Eva Authried